“Komm rein.” Irritiert blicke ich den Flur hinab. Mein Fü?e haben noch nicht einmal die letzte Treppenstufe berührt. Marco scheint schlecht drauf zu sein. Ich hoffe, dass was auch immer in diesem Brief steht, gute Nachrichten für uns bedeuten.
Mit gro?en Schritten durchquere ich den Flur und betrete das Arbeitszimmer unseres Anführers. Der Tisch ist ein einziges Durcheinander. In einer Ecke stapeln sich bereits die leeren Teller. Verschiedene Bücher liegen aufgeschlagen über den Fu?boden verteilt. Der Bewohner des Zimmer sieht jedoch zumindest ausgeschlafen aus. Ich h?ndige den Umschlag aus und versuche den Rückzug anzutreten. “Wenn ich dich schon einmal gerade da habe, k?nntest du mir dann einen Gefallen tun? Ich habe ein paar Dinge in der Stadt bestellt, welche abgeholt werden müssten.” Boteng?nge geh?ren eigentlich nicht zu meinen Aufgaben. In der Regel kümmern sich die Kuriere um solche Sachen. Allerdings wei? Marco vermutlich auch, dass mein aktueller Terminkalender eher dürftig gefüllt ist. Eine Ablenkung von meinem Dilemma würde mir au?erdem ganz gut tun. Ich willige also ein, stelle aber fest, dass Marco bereits mit dem Brief des Barons besch?ftigt ist.
Natürlich würde auch ich gerne wissen, was in dem Brief steht. Es passiert schlie?lich nicht jeden Tag, dass ein Bote des Barons etwas überbringt. Ich versuche vergeblich etwas aus der steinernen Mimik unseres Anführers zu lesen: “So soll die Sache also laufen”, murmelt er schlie?lich. “Hier”, wobei Marco mir den Brief entgegen h?lt. Ich z?gere für einen Moment. Leider gewinnt meine Neugier die Oberhand und ich greife nach dem Stück Papier:
“ Sehr geehrter Herr Sira,
Ich m?chte Ihnen zun?chst für Ihren Einsatz in Silberstieg danken. Ohne Ihre Führungsst?rke und Entschlossenheit w?ren die Banditen wom?glich entkommen.
Aus diesem Anlass m?chte ich Sie und eine Begleitung Ihrer Wahl, in vier Tagen zu einer Feier auf meinem Anwesen einladen. Zus?tzlich zu der Rückeroberung der Stadt, m?chte ich diese Veranstaltung auch dem 14. Geburtstag meiner Tochter widmen. Gerne erwarte ich Sie bereits am frühen Nachmittag.
P.S. Bitte richten Sie ihrem Neuzugang aus, dass seine Anwesenheit die Veranstaltung ebenfalls bereichern würde.
Ich verbleibe in freudiger Erwartung
Baron Markus Lester”
“Was hat das zu bedeuten?” frage ich Marco, nachdem ich den Brief ein zweites Mal gelesen habe. “Das bedeutet, dass du dir besser ein entsprechendes Gewand für einen Ball organisierst.” “In dem Brief steht aber nichts von einem Ball”, bemerke ich trocken. “Es gibt immer einen Ball. Ein schwingendes Tanzbein ist das Kartenspielen der Reichen.”
“Und warum l?d der Baron ausgerechnet mich pers?nlich ein?” “Weil du der neue Magier in der Stadt bist.” Auf meinen weiterhin fragenden Blick erbarmt sich der Anführer der Sira-Gilde schlie?lich dazu, die Sache ein wenig ausführlicher zu erl?utern: “Ich habe es dir bereits in unserem ersten Gespr?ch gesagt oder nicht? Alleine die Tatsache, dass du die Magier-Klasse inne hast, hebt dich von der Masse ab. Vor deiner Ankunft gab es nur vierzehn Magier in Torfbergen. Jeder von ihnen geh?rt zu der Art von Leuten, welchen man lieber nicht unn?tig auf die Fü?e tritt. Deine bisherigen Leistungen m?gen in Abenteurerkreisen nicht viel wert sein, aber gerade dein Einsatz in Silberstieg ist nicht unbemerkt geblieben. Die hohen Tiere sind neugierig geworden. Sie wollen wissen, wer genau da nach Torfbergen gekommen ist und was man von ihm in Zukunft erwarten kann. Eine Feier kommt da mehr als nur gelegen, um den unbekannten, neuen Magier kennenzulernen.”
Ich merke, wie sich mir der Magen umdreht. Kann ich nicht einfach in Ruhe meinen Aufgaben nachgehen? An mir ist schlie?lich nichts besonderes. Ein Gedanke welcher schnell an seine Grenzen st??t, wenn man bedenkt, dass ich ein Abweichler bin. Trotzdem h?lt sich meine Lust auf eine adlige Geburtstagsfeier in Grenzen. Marco best?tigt mir jedoch, dass auch die anderen Magier vermutlich anwesend sein werden. Andre sollte also ebenfalls vor Ort sein. Vielleicht wei? der Windmagier ja etwas mit dem Begriff “Zone” anzufangen.
Marco schmeisst mich schlie?lich mit einer Liste aus seinem Arbeitszimmer. Ich war so überrascht von meiner Einladung zu der Feier, dass ich glatt vergessen habe ihn nach einer solchen Fertigkeit zu fragen. Vielleicht ergibt sich ja sp?ter noch eine Gelegenheit.
Ich verbringe die n?chsten Stunden mit den Besorgungen für meinen Chef. Genug Zeit, um meine Gedanken ein wenig ordnen zu k?nnen. Z?hneknirschend gestehe ich mir ein, dass meine aktuelle Kleidung vermutlich nicht für das Kaliber einer solchen Veranstaltung ausreichen wird. Immerhin repr?sentiere ich mich nicht nur selbst, sondern auch ein Stück weit die Sira-Gilde. Doch was tr?gt man auf so einer Feier? Wieviel wird mich dieser Spa? überhaupt kosten? Die rund 800 Sil in meiner Tasche waren eigentlich anderweitig verplant. Da ich alleine bei diesem Thema ziemlich aufgeschmissen bin, suche ich den Koch der Gilde auf. Seb legt stets einen besonderen Fokus auf sein Erscheinungsbild. Er ist der Meinung, dass ein schlecht angezogener Koch kein gutes Essen servieren kann. Selbst seine Küche steht im starken Kontrast zu dem Arbeitszimmer unseres Chefs.
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Nach einer erstaunlich lang andauernden Unterhaltung finde ich mich vor einem Laden im oberen Bereich der Stadt wieder. Seb hat mir seinen Herrenausstatter empfohlen und mir noch ein paar Tipps an die Hand gegeben. “Franks erlesene Stoffe” ist ein eher kleiner Laden für diesen Teil der Stadt. Die Inneneinrichtung ist ebenfalls nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Die W?nde des Gesch?fts sind mit einem mir unbekannten, wahrscheinlich sehr teurem Holz verkleidet. Gro?e Lampen tauchen den Raum in ein warmes Licht. Auch der Geruch des Holzes tr?gt zu einer ruhigen, aber dennoch einladenden Atmosph?re bei. Acht Puppen pr?sentieren Kleidungsstücke mit Preisen, welche weit au?erhalb meiner M?glichkeiten liegen. Der Besitzes des Gesch?fts hat ganz auf jegliche Art von schrillen Farben oder Verzierungen verzichtet. Eine durchaus willkommene überraschung. Ich schreite über einen dicken, dunkelroten Teppich und werde sofort von einem sehr elegant gekleideten Mann begrü?t.
630 Sil! Am liebsten h?tte ich den Herrn einmal kr?ftig geschüttelt. Selbst am n?chsten Morgen habe ich mich immer noch nicht wieder beruhigt. Ja die Sachen sind ma?gefertigt und müssen in drei Tagen fertig sein, aber dennoch fühle ich mich über den Tisch gezogen. Dabei hat mir der Besitzer schon einen Rabatt gegeben, weil Seb so ein guter Kunde von ihm ist.
Niedergeschlagen besch?ftige ich mich mit dem n?chsten Problem, dem Ball selbst. Sollte ich tats?chlich der verlorene Sohn einer wohlhabenden Familie sein, so hat man mir nie das Tanzen beigebracht. Nach ein paar ?u?erst unangenehmen Gspr?chen mit Mitglieder der Gilde, lande ich schlie?lich bei Maria. Wenigstens bel?sst die Bogenschützin es nur bei einem breiten Grinsen und verf?llt nicht gleich in einen tosenden Lachanfall.
Wie sich herausstellt, sind meine Sorgen in dieser Hinsicht v?llig unbegründet. Maria versucht mir m?glichst schonend zu vermitteln, dass bei einem Ball nur Paart?nze praktiziert werden. In der Regel fordert also ein Herr seine Begleitung oder eine Dame der Veranstaltung zum Tanz auf. Natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall, welcher aber haupts?chlich sozialen oder politischen Motiven dient. Da ich aber “der Neue” bin, ist die Chance das mir so etwas passiert sehr, sehr gering. Eine Erkenntnis, die mehr wehtut, als ich zugeben würde.
Maria bietet mir dennoch ihre Hilfe an. Statt mir jedoch das Tanzen beizubringen, h?mmert mir die Stellvertreterin der Gilde in den verbleibenden Tagen Unmengen an Informationen über die wichtigen Leute in Torfbergen ein. Mir war gar nicht bewusst, dass sie sich so gut mit der gehobenen Gesellschaft auskennt. Mit diesem gebündelten Wissen, sollte es mir zumindest leichter fallen, nicht in zu viele Fettn?pfchen zu treten.
Es ist der Tag des Festes. Marco und Maria sind bereits gegen Mittag zum Anwesen der Lester-Familie aufgebrochen. Hinter verschlossenen Türen wird in genau dieser Sekunde über erste, konkrete Pl?ne zum Wiederaufbau von Silberstieg diskutiert. Wir sprechen hier über potenziell sechs- oder siebenstellige Summen, welche die einzelnen Akteure bereit sind zu investieren. Das ist der Hintergrund, vor dem die heutige Feier stattfindet.
Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Oberteil, Hose und Socken haben einen zarten Grünton. Seb hat mir diese Farbe mit dem Hintergrund des bevorstehenden Frühlings empfohlen. Darüber trage ich einen dickeren, weinroten Umhang, welcher über ?ffnungen für die Arme verfügt. Auf der Brust findet sich ein kleines, gesticktes Wappen der Sira-Gilde. Der direkte Vergleich zu meinen normalen Sachen ist enorm. Die Sachen fühlen sich wie eine zweite Haut an. Nichts kratzt oder fühlt sich unangenehm an. Auch sollte Regen und Wind für diesen Umhang kein Problem darstellen. Insgesamt sollte meine Garderobe schick genug um nicht ausgelacht zu werden, aber auch gleichzeitig nicht zuviel Aufmerksamkeit erregen. Eine Kombination, welche ich sehr begrü?e.
Ich schnappe mir den Brief des Barons und mache mich auf dem Weg. Nur wenige G?ste werden versuchen das Anwesen, welches auf dem Gipfel des Berges liegt, zu Fu? zu erreichen. Mehrere Kutschen überholen mich auf den Weg nach oben. Ich spare mir lieber die Münzen für eine solche Fahrt und genie?e das gute Wetter. Die Tage, an denen es nicht mehr regnet, h?ufen sich. Ein Zeichen dafür, dass der Frühling nicht mehr lange auf sich warten l?sst.
Das Grundstück der Lester-Familie ist riesig. Vermutlich die letzten zehn Prozent des Berges sind Eigentum des Barons. Hier oben existiert nur eine Stra?e, welche im Vergleich zu weiter unten nahezu steril wirkt. Das Grundstück ist klar vom Rest der Welt mit einer fünf Meter hohen Mauer abgegrenzt. Nichts was einen Rang 2 auf dem ersten Blick ernsthaft aufhalten k?nnte. Die Frage ist viel eher, ob man wirklich bei einem Baron einbrechen m?chte.
Laut Maria ist Herr Lester ein Rang 4 mit einer Nahk?mpfer-Klasse. Eine Tatsache, welchen den meisten Einwohnern von Torfbergen nicht bekannt ist. Identifizieren funktioniert nur bei Lebewesen des gleichen Ranges oder niedriger. Ansonsten spuckt einem die Fertigkeit nur drei Fragezeichen aus. Die überwiegende Mehrheit der Bev?lkerung der Stadt ist jedoch Rang 2. Nur die wenigen Rang 3 Menschen und deren Vertraute wissen, dass Herr Lester nochmal auf einer anderen Stufe steht.
Der Baron hat sich die letzten Jahre jedoch kaum an irgendwelchen K?mpfen beteiligt. Manche munkeln, dass solch kleine Konflikte für einen Mann seines Kalibers einfach nicht von Interesse sind. Andere Leute halten eine Krankheit oder einen Fluch für die Ursache seiner Unt?tigkeit. Diese These wurde jedoch vor ein paar Wochen widerlegt. Ein paar Banditen war es tats?chlich gelungen, die Tochter des Barons auf ihrer Heimreise zu entführen. Auch wenn Herr Lester noch über einen Sohn verfügt, so ist es doch ein offenes Geheimnis, wie wichtig dem Adligen seine Tochter ist. Entsprechend ehrgeizig ging er bei der Suche vor. Ein gro?es Waldstück westlich von hier ist jetzt verbrannte Erde. Es hei?t, dass weder von den Banditen, noch von der Vegetation irgendetwas übrig geblieben ist. Alles was die Gilden aus diesem Ereignis lernen konnten war, dass mit Herrn Lester im Ernstfall nicht zu scherzen ist.
Ich erreiche das erste Tor und zeige den Brief als meine offizielle Einladung vor. Ohne Probleme wird mir der Einlass gew?hrt. Viele Pers?nlichkeiten werden sich im Verlaufe des Tages hier einfinden. Meine Vorfreude h?lt sich nach wie vor eher in Grenzen. Jedoch bin ich offen dafür, was der Tag noch so bringen wird.